Systemische Perspektiven auf herausforderndes Verhalten von Kindern
- Blickpunkt Mensch
- 28. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Kinder, Jugendliche – und auch Erwachsene – zeigen immer wieder Verhalten, das auf den ersten Blick schwer zu verstehen ist. Wutanfälle, Rückzug, Aggression oder Trotz wirken störend, belasten Beziehungen und stellen Fachkräfte wie Eltern vor Herausforderungen.
Für pädagogische Fachkräfte ist es oft schwer, das „Warum“ zu erkennen. Statt vorschnelle Schlüsse zu ziehen, hilft es, einen Schritt zurückzutreten und das Verhalten mit systemischem Blick zu betrachten.
Die systemische Sichtweise hilft, hinter das Verhalten zu schauen: Nicht „Was stimmt nicht mit diesem Menschen?“, sondern „Was will er mir damit zeigen?“
Systemisch denken heißt: Zusammenhänge sehen
Die systemische Sichtweise geht davon aus, dass Verhalten nie isoliert entsteht. Kinder bringen ihre Erfahrungen, Bindungsmuster und ihre „innere Landkarte“ mit in die Einrichtung. Ihr Verhalten ist häufig ein Lösungsversuch, um grundlegende Bedürfnisse – wie Sicherheit, Zugehörigkeit oder Autonomie – zu erfüllen. Auch das Umfeld, also Familie, Kita-Team und andere Bezugspersonen, ist Teil dieses „Systems“.
Die Rolle der Fachkraft
Als pädagogische Fachkraft bist du nicht nur Beobachterin, sondern Teil des Systems. Dein Verhalten, deine Erwartungen und deine Reaktionen beeinflussen das Kind – und umgekehrt. Systemische Arbeit ermutigt dazu, die eigene Haltung zu reflektieren:
Was löst das Verhalten bei mir aus?
Welche Erwartungen habe ich an das Kind?
Wie kann ich Beziehung so gestalten, dass sich das Kind gestärkt fühlt?
Verhalten als Lösungsversuch
Im systemischen Denken gilt: Jedes Verhalten hat einen „guten Grund“. Oft ist es der Versuch, ein Bedürfnis zu erfüllen – nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Autonomie oder Selbstwirksamkeit. Verhaltensweisen, die wir als „auffällig“ oder „problematisch“ einordnen, können also Lösungsversuche sein, die aus der Perspektive des Kindes oder Jugendlichen Sinn machen.
Fallbeispiel Kita: Das „wilde“ Kind
Sofia (3) wirft im Gruppenraum Bauklötze um sich und stößt andere Kinder weg, wenn diese zu nah kommen.
Schnelle Deutung: „Sofia ist aggressiv.“
Systemischer Blick: Vielleicht versucht Sofia, sich Raum zu schaffen, weil sie sich von der Gruppe überfordert fühlt. Ihr Verhalten ist ein Lösungsversuch, Sicherheit zu gewinnen.
👉 Fachkraft-Reaktion: Statt nur Grenzen zu setzen, könnte man Sofia zunächst Schutzräume anbieten, ihre Bedürfnisse nach Ruhe verbalisieren („Du brauchst gerade mehr Platz“) und schrittweise Alternativen aufzeigen.
Fallbeispiel Schule: Der Klassenclown
Jonas (9) macht im Unterricht ständig Witze, fällt der Lehrerin ins Wort und lenkt andere Kinder ab.
Schnelle Deutung: „Jonas will nur Aufmerksamkeit.“
Systemischer Blick: Jonas versucht möglicherweise, seine Unsicherheit zu überspielen. Humor ist sein Lösungsversuch, Zugehörigkeit in der Klassengemeinschaft zu sichern.
👉 Pädagogische Möglichkeit: Den Humor anerkennen („Du bringst uns oft zum Lachen“) – und gleichzeitig klar machen, wann und wie er Raum bekommt. So erlebt Jonas Zugehörigkeit, ohne den Unterricht zu stören.
Fallbeispiel Familie: Das trotzige Kind
Emma (6) weigert sich konsequent, beim Abendessen am Tisch zu sitzen. Sie läuft ständig herum, meckert oder wirft das Besteck.
Schnelle Deutung: „Emma ist ungehorsam.“
Systemischer Blick: In der Autonomiephase probiert Emma aus, wie weit ihr Einfluss reicht. Das Verhalten ist ihr Lösungsversuch, Selbstbestimmung zu erleben.
👉 Elternreaktion: Statt Machtkämpfe auszutragen, kann man Emma kleine Wahlmöglichkeiten geben („Möchtest du auf diesem oder jenem Stuhl sitzen?“). So erlebt sie Autonomie innerhalb klarer Rahmen.
Fallbeispiel Jugendhilfe: Der schweigende Jugendliche
Mehmet (15) redet in den Beratungsgesprächen kaum. Er sitzt mit verschränkten Armen da und sagt nur einsilbig „weiß nicht“.
Schnelle Deutung: „Er blockt ab und will nicht mitarbeiten.“
Systemischer Blick: Schweigen kann ein Lösungsversuch sein, Kontrolle zu behalten oder sich vor möglichen Bewertungen zu schützen.
👉 Fachkraft-Reaktion: Statt Druck aufzubauen, hilft es, das Schweigen wertzuschätzen („Es ist okay, dass du gerade nicht reden willst“) und alternative Ausdruckswege (Zeichnen, Schreiben, Musik) zu eröffnen.
Herausforderndes Verhalten fordert uns – und lädt uns gleichzeitig ein, genauer hinzuschauen.
Mit systemischem Blick gelingt es, neue Perspektiven einzunehmen, Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten und dabei auch die eigene Haltung weiterzuentwickeln.
In der Rubrik: Themen-Seminare gibt es verschiedene tolle Fort- und Weiterbildungsangebote.
Systemisch zu arbeiten heißt, Verhalten nicht vorschnell zu bewerten, sondern als Signal zu verstehen. Ob in Kita, Schule, Familie oder Beratung – hinter jedem Verhalten steckt ein Bedürfnis und ein Lösungsversuch. Wenn wir das erkennen, können wir neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln: weg von der Defizitsicht, hin zu Stärkung, Beziehungsgestaltung und echter Entwicklung.
Über die Autorin / den Autor
Stefanie Milz ist systemische Beraterin und Expertin für Resilienzförderung im Kita-Alltag. In ihrer Praxis unterstützt sie Fachkräfte durch Supervision, Fortbildungen und systemische Beratung dabei, Kinder in ihrer Widerstandskraft zu stärken. Mehr zu ihren Angeboten unter: [Webseite / Kontaktmöglichkeit einfügen].
Stefanie Milz
Erzieherin
Systemische Familientherapeutin (SG)
Zertifizierte Marte Meo Supervisorin
Systemische Supervisorin (SG)
Motopädagogin
Neurophysiologische Entwicklungstrainerin


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